Ausstellung im Leopold-Museum
Die bis 27.3.2022 zu sehende Ausstellung über den bedeutenden Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein war die erste, die sich mit seiner Beschäftigung mit der Fotografie befasste. Allerdings wurde der Besucher beim Eintritt in die Ausstellung gleich überrascht, denn im ersten Raum hängen ringsherum eine Reihe von großformatigen Porträts, die aber ganz offensichtlich nicht von Wittgenstein sind. Hier finden sich ein paar Siebdrucke von Thomas Ruff und daneben gibt es auch kleinformatige Serien von Manfred Willmann und Gottfried Bechtold zu sehen. Letzterer zeigt eine Mona Lisa, die mit einer „Italian Woman (Student in Paris)“ verglichen wird.
Auch Werke der deutschen Fotografin Katharina Sieverding zeigen die Ausstellungskuratoren Verena Gamper und Gregor Schmoll. Es sind sogenannte „Verflüssigungen“. Bei Sieverding, die ja für die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums Fotografie bekannt ist, ist leider nicht ersichtlich, wie sie diese Arbeiten gemacht hat. Auf der Bildbeschreibung sind nur die Techniken „Farbfotografien, Acryl, Stahlrahmen“ zu lesen, aber eine genauere Beschreibung des technischen Vorgangs wäre sehr interessant gewesen.
Im nächsten Raum stellt sich wieder die Frage: Wo ist Wittgenstein? Hat man die anderen Künstler vielleicht in einem Bezug zu ihm gesehen? Die „Beschäftigung mit dem Selbst“ könnte ein Titel des nächsten Raumes sein, denn dieser ist vielfachen Herangehensweisen ans Selbstporträt gewidmet, und es ist unglaublich, wie viele Künstlerinnen und Künstler da etwas machten: Timm Rautert, Peter Handke, Andy Warhol, Peter Weibel oder Friedl Kubelka, die man vielleicht als Vorgängerin der heutigen Selfies mit einem Selbstporträt pro Tag bezeichnen könnte.
Langsam kommt der Bezug zu Wittgenstein. Von ihm gibt es nur eine Fotoserie, in der er sich mit seinem eigenen Selbst beschäftigt hat, nämlich in einer Serie aus einem Fotoautomaten. Diese Geräte, die oft auch zur Anfertigung von Passbildern verwendet wurden, wurden ab 1927 weltweit in Kaufhäusern aufgestellt. In Wien gab es die ersten im Jahre 1928.
Nach zwei Räumen mit anderen Künstlern folgt dann ein eigener Raum über die Familie Wittgenstein mit einer Zeitleiste über Ludwig selbst. Die Zeit zwischen 1889 – 1926 wird hier behandelt, wobei die nächsten Räume dann darüber hinaus führen werden. Die Zeitleiste hat Bilder aus dem Kleinkind-Alter daneben. Die Kuratoren verweisen darauf, wie wichtig Fotografie, Kunst, Kultur und Musik in seiner Familie waren. Wittgensteins Vater beschäftigte gleich mehrere Fotografen, um das Leben der gesellschaftlich etablierten Familie festzuhalten. Ähnlich wie Ludwig erforschten auch sein Bruder und seine Schwester das Medium in verschiedenen Versuchen, und der Fotograf Moritz Nähr unterstützte sie dabei.
Die Ausstellung zeigt die Bilder der verschiedenen Fotografen wie Johann Victor Krämer und Moritz Nähr, die die Anwesen der Wittgensteins und diese selbst porträtierten und mit ihnen zusammenarbeiteten. Es gab aber auch bedeutende Fotografinnen, die für die Familie Wittgenstein tätig waren: So etwa Pauline Kruger Hamilton, Madame D’Ora, Dora Kallmus oder Trude Fleischmann. Bei Nähr lernte auch die Nichte von Clara Wittgenstein, Lydia Oser.
Wittgensteins eigenes Fotoalbum, das in einem Raum zu sehen ist, hat keine Struktur. Viele der Fotos sind beschnitten. Es ist eine Wanderung durch Porträts, Familienbilder, Architekturfotografien und Landschaftsaufnahmen. Es finden sich darin auch keine schriftlichen Erklärungen. Wittgenstein vertraut allein auf die Aussagekraft der Fotografien, und mischt diese scheinbar nach Gefühl. Auch als Sprachphilosoph zerschneidet Wittgenstein die Typoskripte und generiert danach Anmerkungen, die in verschiedenen möglichen Bezügen zueinander stehen. Dieser Vergleich lässt sich durch seine Gedanken in „Philosophische Untersuchungen“ (1945) über das Album konstruieren. Dem Fotoalbum Wittgenstein’s ist ein Projekt Boltanskis gegenübergestellt. Ausgehend von einem Familienbild-Archiv stellte er ein anderes seines Freundes zusammen, von dem er die eigentliche chronologische Reihenfolge der Aufnahmen und die Bezüge zwischen den Dargestellten nicht kannte, aber nur anhand der Bilder feststellte. Ein weiterer Vergleich, der in der Ausstellung gezeigt wird, ist Gerhard Richters „Atlas“-Projekt. Der Künstler stellte hier eine Sammlung von Fotografien, Zeitungsausschnitten und Skizzen auf losen Blättern zusammen.
Die Ausstellung zeigt auch Bilder von Peter Hujar und Nan Goldin neben Porträts vieler weiterer Fotografen, thematisiert u. a. auch die Lügen der Fotografie und schließt mit der österreichischen Architektur-Fotografin Margherita Spiluttini in einem Raum mit Fragen über den Tod. Sie nimmt damit auf den Tod Wittgensteins Bezug. Das Totenbild von Wittgenstein, von seinem langjährigen Lebensgefährten Ben Richards aufgenommen, wurde länger vorbereitet. Wittgenstein hielt fest, wie es aussehen und gedruckt werden sollte. Mit dem Tod war Wittgenstein jedoch zeit seines Lebens konfrontiert. Seine drei älteren Brüder machten ihrem Leben selbst ein Ende, und auch Ludwig gestand einem Freund, dass er sich seit dem 13. Lebensjahr umbringen wollte, es aber nie zu Wege gebracht hatte. Auch im Ersten Weltkrieg wurde Wittgenstein mit dem Sterben konfrontiert, und er notierte in seinem Tagebuch im Mai 1916: „Der Tod gibt dem Leben erst seine Bedeutung“, und später auf der Rectoseite in Normalschrift: „Die Welt und das Leben sind Eins. […] Ethik und Aesthetik sind Eins.“
Spiluttini begleitete mit ihren Bildern ihren sterbenden Vater, und will damit ausloten, was in einer Fotografie noch darstellbar ist. Damit stellt sie die Frage nach der Ethik des Fotografen und seiner Verantwortung.